Sonntag, 23. Dezember 2012

Buchempfehlung: Ulrich Horstmann - Ansichten vom Großen Umsonst

 Auszüge aus dem Kapitel "Endmoränen":

Der Funke war schon da; unsere Vorfahren haben ihn über Abertausende von Jahren gehegt, von Generation zu Generation weitergegeben, mühsam Zunder gesammelt und darum angehäuft, gehaucht, geblasen, gebetet - und jetzt knechtet den Menschen das so mühsam entfachte Feuer, versklavt ihn die Glut, und er ist dabei, einen ganzen Planeten zu verheizen, um die Kälte nicht wieder in den Gliedern zu spüren, die ihm zum Herzen kroch, und um die lauernde Angst zu vertreiben. Denn wurde er nicht in eine Mördergrube hineingeboren, in der nur ein Gesetz galt: Töten, um nicht getötet zu werden, kaltmachen, was einen mit seinem stinkenden Raubtieratem anfallen wollte, sich bis an die Zähne rüsten gegen ein blindwütiges Verschlingen und Zerstören, gegen das Aus-dem-Leben-gerissen-werden, an dem einst die Dämonen schuld waren und für das heute Viren, Bakterien oder genetische Defekte geradestehen müssen?
Was blieb uns denn anderes übrig, als dieser Hölle mit der zugleich herrlichsten und verheerendsten aller Waffen entgegenzutreten, mit der wir uns selbsthypnotisch unverwundbar machen und zugleich alles Erbarmen abstreifen konnten: mit der Vision des neuen Garten Eden nämlich, dem eisernen Willen zur Fabrikation des Paradieses und zur Humanisierung der Natur? Jawohl, wir haben dabei den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben, wie das dem Strickmuster einer Welt entspricht, von der ein weniger verblendeter Urheber hätte einsehen müssen, daß sie alles andere als makellos war. Jawohl, wir, die wir vergehen "wie Rauch von starken Winden" haben den Spieß umgedreht. Gegen eine Weltunvernunft, die uns überzog mit Hungersnöten, Pestepidemien und Schuldkomplexen, haben wir angedacht, angeforscht, anexperimentiert. Und endlich begriffen, wie man den wissenschaftlichen Geist aus der Flasche befreit und wie man ihn auf beliebige Opfer hetzt. Wir mußten sie loslassen auf die Wirklichkeit, diese Furie des Verschwindens, um uns selbst vor der Auflösung zu schützen. Fressen oder gefressen werden - das Gesetz des Dschungels hat auch die Zivilisation gestiftet, diesen Urwald unserer Wünsche, Begierden und wildwuchernden Hoffnungen. Und es ist das aus uns selbst aufgeschossene Dickicht, in dem der große Mechaniker, Pflanzenzüchter und Tierbändiger, der Medizinmann und Möchtegern-Heiland Erdenkloß sich immer hoffnungsloser verrennt und verirrt.
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Die Tiere und Pflanzen, die früher - auf uns jetzt märchenhaft dünkende Weise - mit uns redeten und verkehrten, haben längst allen Kontakt abgebrochen. Die Wälder sterben lieber, als uns zuzuraunen. Die Luft und das Wasser erwehren sich unser mit schleichenden Giften. Der letzte Gott, der noch zu uns hielt und den wir zum Dank den Allmächtigen tauften, läßt sich verleugnen. Die Götzen stürzen von ihren Altären, kaum daß wir sie mit immensen Kosten installiert und mit selbstmörderischem Werbeaufwand populär gemacht haben. Alle guten Geister haben uns verlassen, und selbst die Erinnerungen zersetzen sich und zerfallen wie das Buchpapier in den Bibliotheken. Wer Augen hat zu sehen, wer Ohren hat zu hören, der muß unsere Welt verloren geben.
Der Augenblick, in dem eben dies geschieht, ist vielleicht der bedeutsamste der Menschheitsgeschichte, die wahre Apokalypse; denn Apokalypse heißt Enthüllung, und mit unserer Bankrotterklärung leisten wir den Offenbarungseid. Zum ersten und einzigen Mal haben wir uns ganz durchschaut, sehen wir uns so, wie wir waren und wie wir sind: Verwüster unserer selbst und unseres Planeten, eine furchtbare Geißel, ein evolutionsgeschichtlicher Spuk, der so schnell verschwinden wird, wie er kam, eine Rotte heilssüchtiger Berserker, hilflos den eigenen Hirngespinsten ausgeliefert, die ihnen immer noch vorgaukeln, sie legten die Fundamente des neuen Jerusalem, als sie schon ihr eigenes Grab schaufelten.
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Wir leben in einer Endzeit, im Präapokalyptikum, in einer Phase möglicher Selbstauslöschung und der entsprechend hysterischen Reaktionen. Angesichts einer Menschheit, die sich anschickt, den Urzustand der Menschenleere wieder herzustellen, versagen die traditionellen Erklärungsmuster in eklatanter Weise, und der Humanismus kann nur noch "verstehen", indem er die Sinnhaltigkeit dieser Revokation überhaupt in Abrede stellt oder sich auf eine hilflose Betriebsunfallmetaphorik zurückzieht.
Derartige Unanfechtbarkeitseinbußen aber stärken ein Denken gegen den menschenfrommen Strich, das vorher unisono als pessimistisch, misanthropisch antihumanistisch an den Pranger gestellt werden konnte, und die Orientierungskrise hat Philosophen wie E.M. Cioran auf den Plan gerufen, der das Paradies ohne Umschweife als "Abwesenheit des Menschen" definiert.
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Seit unserem Ausscheren aus dem Tierreich und der ersten großen Entdeckung des Untiers, der Entdeckung des Todes, haben wir uns als Sterbliche definieren müssen und uns mit der Unsterblichkeit der Gattung über das individuelle, das eigene Verenden hinwegtrösten gelernt. Das aber ist nicht länger möglich. Mit dem Durchbuchstabieren des ABC der Massenvernichtung nach dem zweiten Vorbereitungskrieg sind wir, wie Günter Anders einmal prägnant formuliert hat, vom genus mortalium, vom Geschlecht der Sterblichen also, zu einem genus mortale, einem sterblichen Geschlecht, geworden und leben im Angesicht des Gattungsexitus oder - biologisch gesagt - in Erwartung der Terminierung der menschlichen Keimbahn durch die gegenwärtig existenten Gattungsexemplare selbst.
Homo sapiens stirbt. Wie verhält man sich gegenüber einer sterbenden Spezies? Wie verhält man sich gegenüber der sterbenden Spezies, der man selbst angehört? Es gibt auch hier zwei grundverschiedene, einander ausschließende Möglichkeiten. Entweder man läßt die Wahrheit über den eigenen Zustand nicht zu, setzt auf Rettung in letzter Minute, auf Wundermittel, auf Gesundbeterei und eine humanistische Vernunft, die es in ihrer Verblendung noch fertigbringt, die allgegenwärtigen Todesahnungen als "Lust am Untergang" zu verunglimpfen, oder man öffnet die Augen und anerkennt das Unausweichliche, die Tatsache nämlich, daß wir Geschichte haben, aber keine Zukunft, daß wir waren, aber bald nicht mehr sind.
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Die bitterste aller Wahrheiten - daß wir im Grunde etwas sind, das nicht sein sollte - ist immer noch verfemt. Daran haben die Massengräber nichts zu ändern vermocht, nicht die Hekatomben von erschlagenen, aufgespießten, zerhackten, erschossenen, von Bomben zerfetzten, vergasten, zerstrahlten oder sonstwie mit patriotischem Elan vom Leben zum Tode beförderten Gattungsgenossen, die endlosen Feldzüge, Gemetzel, Völkerschlachten und Ausrottungskampagnen nicht, die Vernichtungslager nicht und auch nicht die Feuerstürme in den Städten. O nein, dieses Wesen, das das Tierreich in einen Schlachthof verwandelt hat und die Flora entweder ausmerzt oder unter seine chemische Knute zwingt, das in Strömen eigenen und fremden Blutes zu waten gewohnt ist und sein Heimatrecht auf diesem Planeten längst verwirkt hat, dieses Wesen denkt gar nicht daran, sich in Frage stellen zu lassen, sondern wippt auf den Hinterläufen und bestätigt sich, von Symposion zu Symposion eilend, seine Unverzichtbarkeit und eine unverwüstliche Humanität, die zu den schönsten Erwartungen Anlaß gebe.
Die anthropofugale Vernunft weiß es besser. Und allein die Tatsache, daß keine Hoffnung mehr ist, vermag sie hoffnungsfroh zu stimmen.
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Uns ist etwas in Scherben gegangen, was keine Reue, keine Umkehr wieder ganz werden läßt, und die einzig vernünftige Reaktion darauf ist nicht Trotz, sondern Trauer und ein melancholisches Sich-Lösen von dem, was unwiederbringlich dahin ist.

Ansichten vom Großen Umsonst

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