Auszüge aus dem Kapitel "Endmoränen":
Der Funke war schon da; unsere Vorfahren haben ihn über
Abertausende von Jahren gehegt, von Generation zu Generation weitergegeben,
mühsam Zunder gesammelt und darum angehäuft, gehaucht, geblasen,
gebetet - und jetzt knechtet den Menschen das so mühsam entfachte
Feuer, versklavt ihn die Glut, und er ist dabei, einen ganzen Planeten
zu verheizen, um die Kälte nicht wieder in den Gliedern zu spüren,
die ihm zum Herzen kroch, und um die lauernde Angst zu vertreiben. Denn
wurde er nicht in eine Mördergrube hineingeboren, in der nur ein Gesetz
galt: Töten, um nicht getötet zu werden, kaltmachen, was einen
mit seinem stinkenden Raubtieratem anfallen wollte, sich bis an die Zähne
rüsten gegen ein blindwütiges Verschlingen und Zerstören,
gegen das Aus-dem-Leben-gerissen-werden, an dem einst die Dämonen
schuld waren und für das heute Viren, Bakterien oder genetische Defekte
geradestehen müssen?
Was blieb uns denn anderes übrig, als dieser Hölle
mit der zugleich herrlichsten und verheerendsten aller Waffen entgegenzutreten,
mit der wir uns selbsthypnotisch unverwundbar machen und zugleich alles
Erbarmen abstreifen konnten: mit der Vision des neuen Garten Eden nämlich,
dem eisernen Willen zur Fabrikation des Paradieses und zur Humanisierung
der Natur? Jawohl, wir haben dabei den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben,
wie das dem Strickmuster einer Welt entspricht, von der ein weniger verblendeter
Urheber hätte einsehen müssen, daß sie alles andere als
makellos war. Jawohl, wir, die wir vergehen "wie Rauch von starken Winden"
haben den Spieß umgedreht. Gegen eine Weltunvernunft, die uns überzog
mit Hungersnöten, Pestepidemien und Schuldkomplexen, haben wir angedacht,
angeforscht, anexperimentiert. Und endlich begriffen, wie man den wissenschaftlichen
Geist aus der Flasche befreit und wie man ihn auf beliebige Opfer hetzt.
Wir mußten sie loslassen auf die Wirklichkeit, diese Furie des Verschwindens,
um uns selbst vor der Auflösung zu schützen. Fressen oder gefressen
werden - das Gesetz des Dschungels hat auch die Zivilisation gestiftet,
diesen Urwald unserer Wünsche, Begierden und wildwuchernden Hoffnungen.
Und es ist das aus uns selbst aufgeschossene Dickicht, in dem der große
Mechaniker, Pflanzenzüchter und Tierbändiger, der Medizinmann
und Möchtegern-Heiland Erdenkloß sich immer hoffnungsloser verrennt
und verirrt.
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Die Tiere und Pflanzen, die früher - auf uns jetzt
märchenhaft dünkende Weise - mit uns redeten und verkehrten,
haben längst allen Kontakt abgebrochen. Die Wälder sterben lieber,
als uns zuzuraunen. Die Luft und das Wasser erwehren sich unser mit schleichenden
Giften. Der letzte Gott, der noch zu uns hielt und den wir zum Dank den
Allmächtigen tauften, läßt sich verleugnen. Die Götzen
stürzen von ihren Altären, kaum daß wir sie mit immensen
Kosten installiert und mit selbstmörderischem Werbeaufwand populär
gemacht haben. Alle guten Geister haben uns verlassen, und selbst die Erinnerungen
zersetzen sich und zerfallen wie das Buchpapier in den Bibliotheken. Wer
Augen hat zu sehen, wer Ohren hat zu hören, der muß unsere Welt
verloren geben.
Der Augenblick, in dem eben dies geschieht, ist vielleicht
der bedeutsamste der Menschheitsgeschichte, die wahre Apokalypse; denn
Apokalypse heißt Enthüllung, und mit unserer Bankrotterklärung
leisten wir den Offenbarungseid. Zum ersten und einzigen Mal haben wir
uns ganz durchschaut, sehen wir uns so, wie wir waren und wie wir sind:
Verwüster unserer selbst und unseres Planeten, eine furchtbare Geißel,
ein evolutionsgeschichtlicher Spuk, der so schnell verschwinden wird, wie
er kam, eine Rotte heilssüchtiger Berserker, hilflos den eigenen Hirngespinsten
ausgeliefert, die ihnen immer noch vorgaukeln, sie legten die Fundamente
des neuen Jerusalem, als sie schon ihr eigenes Grab schaufelten.
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Wir leben in einer Endzeit, im Präapokalyptikum,
in einer Phase möglicher Selbstauslöschung und der entsprechend
hysterischen Reaktionen. Angesichts einer Menschheit, die sich anschickt,
den Urzustand der Menschenleere wieder herzustellen, versagen die traditionellen
Erklärungsmuster in eklatanter Weise, und der Humanismus kann nur
noch "verstehen", indem er die Sinnhaltigkeit dieser Revokation überhaupt
in Abrede stellt oder sich auf eine hilflose Betriebsunfallmetaphorik zurückzieht.
Derartige Unanfechtbarkeitseinbußen aber stärken
ein Denken gegen den menschenfrommen Strich, das vorher unisono als pessimistisch,
misanthropisch antihumanistisch an den Pranger gestellt werden konnte,
und die Orientierungskrise hat Philosophen wie E.M. Cioran auf den Plan
gerufen, der das Paradies ohne Umschweife als "Abwesenheit des Menschen"
definiert.
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Seit unserem Ausscheren aus dem Tierreich und der ersten
großen Entdeckung des Untiers, der Entdeckung des Todes, haben wir
uns als Sterbliche definieren müssen und uns mit der Unsterblichkeit
der Gattung über das individuelle, das eigene Verenden hinwegtrösten
gelernt. Das aber ist nicht länger möglich. Mit dem Durchbuchstabieren
des ABC der Massenvernichtung nach dem zweiten Vorbereitungskrieg sind
wir, wie Günter Anders einmal prägnant formuliert hat, vom genus
mortalium, vom Geschlecht der Sterblichen also, zu einem genus mortale,
einem sterblichen Geschlecht, geworden und leben im Angesicht des Gattungsexitus
oder - biologisch gesagt - in Erwartung der Terminierung der menschlichen
Keimbahn durch die gegenwärtig existenten Gattungsexemplare selbst.
Homo sapiens stirbt. Wie verhält man sich gegenüber
einer sterbenden Spezies? Wie verhält man sich gegenüber der
sterbenden Spezies, der man selbst angehört? Es gibt auch hier zwei
grundverschiedene, einander ausschließende Möglichkeiten. Entweder
man läßt die Wahrheit über den eigenen Zustand nicht zu,
setzt auf Rettung in letzter Minute, auf Wundermittel, auf Gesundbeterei
und eine humanistische Vernunft, die es in ihrer Verblendung noch fertigbringt,
die allgegenwärtigen Todesahnungen als "Lust am Untergang" zu verunglimpfen,
oder man öffnet die Augen und anerkennt das Unausweichliche, die Tatsache
nämlich, daß wir Geschichte haben, aber keine Zukunft, daß
wir waren, aber bald nicht mehr sind.
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Die bitterste aller Wahrheiten - daß wir im Grunde
etwas sind, das nicht sein sollte - ist immer noch verfemt. Daran haben
die Massengräber nichts zu ändern vermocht, nicht die Hekatomben
von erschlagenen, aufgespießten, zerhackten, erschossenen, von Bomben
zerfetzten, vergasten, zerstrahlten oder sonstwie mit patriotischem Elan
vom Leben zum Tode beförderten Gattungsgenossen, die endlosen Feldzüge,
Gemetzel, Völkerschlachten und Ausrottungskampagnen nicht, die Vernichtungslager
nicht und auch nicht die Feuerstürme in den Städten. O nein,
dieses Wesen, das das Tierreich in einen Schlachthof verwandelt hat und
die Flora entweder ausmerzt oder unter seine chemische Knute zwingt, das
in Strömen eigenen und fremden Blutes zu waten gewohnt ist und sein
Heimatrecht auf diesem Planeten längst verwirkt hat, dieses Wesen
denkt gar nicht daran, sich in Frage stellen zu lassen, sondern wippt auf
den Hinterläufen und bestätigt sich, von Symposion zu Symposion
eilend, seine Unverzichtbarkeit und eine unverwüstliche Humanität,
die zu den schönsten Erwartungen Anlaß gebe.
Die anthropofugale Vernunft weiß es besser. Und
allein die Tatsache, daß keine Hoffnung mehr ist, vermag sie hoffnungsfroh
zu stimmen.
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Uns ist etwas in Scherben gegangen, was keine Reue, keine
Umkehr wieder ganz werden läßt, und die einzig vernünftige
Reaktion darauf ist nicht Trotz, sondern Trauer und ein melancholisches
Sich-Lösen von dem, was unwiederbringlich dahin ist.
Ansichten vom Großen Umsonst
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