Lang andauerndes Unglück wie auch ein zur Gewohnheit
gewordener Zustand, in welchem dem Menschen Freuden und Anreize für
seine Eigenliebe versagt sind, lassen auch in der edelsten Seele schließlich
jede Phantasie, alles starke Gefühl, Leben, Tatkraft und Stärke
und nahezu jede Seelengabe erlöschen. Denn eine derartige Seele fasst
sich nach der ersten nutzlosen Verzweiflung und dem wilden und schmerzreichen
Zusammenstoß mit der Notwendigkeit schließlich in einem Zustand
der Stille und kennt keinen Ausweg im Leben mehr, wie auch Natur und Zeit
ihr nichts anderes gebieten, denn die Eigenliebe dauernd zurückzudrängen
und zu unterdrücken, damit sie das Unglück weniger hart treffe,
dieses besser zu ertragen und mit der Ruhe eher vereinbar sei. Daraus entsteht
dann eine übermäßige Gleichgültigkeit und Härte
gegen sich selbst, ein vollkommenes Absterben geistigen Lebens und menschlicher
Gaben. Der Mensch nimmt an sich selbst keinen Anteil mehr und widmet sich
auch keiner Sache, denn im Grunde nimmt er an Dingen nur Anteil, wenn sie
eine mehr oder weniger enge und offenbare, aber doch irgendwie geartete
Beziehung zu ihm selbst haben, weder die Schönheiten der Natur, Musik,
Dichtung, erfreuliche oder traurige Weltereignisse, noch Glück und
Unglück anderer Menschen, gehören sie selbst zu seinen allernächsten,
erzeugen in ihm einen lebhaften Eindruck, wecken oder erwärmen ihn
innerlich oder sprechen seine Phantasie und sein Gefühl an oder fordern
seine Anteilnahme und bereiten ihm weder Freude noch Schmerz, obwohl sie
ihn noch vor wenigen Jahren mit Begeisterung erfüllt und zu tausenderlei
Schöpfungen angeregt hatten. Er ist über seine eigene Unfruchtbarkeit,
Unrührbarkeit und Kälte selbst hilflos erstaunt und sieht sich,
nachdem er einstmals die größten Fähigkeiten besessen hatte,
nun völlig unfähig zu allem und jedem und sich selbst wie den
anderen unnütz. Das Leben erstirbt, wenn die Eigenliebe ihren Wirkungsbereich
eingebüßt hat. Jede Seelenkraft erlischt mit der Hoffnung. Ich
meine damit nur den Zustand beruhigter Verzweiflung; denn die wilde ist
voller Hoffnungen oder wenigstens Wünsche und giert noch im selben
Augenblick nach Glück, in dem sie Stahl oder Gift gegen sich selbst
richtet.
Völlig erloschen sind die Wünsche in einer
Seele, die sich damit abgefunden hat, sie stets unerfüllt zu sehen,
und die aufgrund vernünftiger Überlegung oder gar beider dazu
herabsank, sie selbst einzuschläfern oder gar zu unterdrücken.
Der Mensch, welcher sich selbst nichts mehr wünscht und sich selbst
nicht mehr liebt, taugt auch für andere nichts. Alle Freuden, Leiden,
Regungen und Taten, welche ihm die oben erwähnten Dinge, d.h. die
Natur und alle übrigen Erscheinungen eingaben, bezogen sich in der
ein oder anderen Weise auf ihn selbst, und ihr Lebenselement bestand in
einer Rückkehr zu sich selbst. Jene einst so starke Seele büßte
nun alles Wilde, jeden Menschenhass, Groll und Unwillen, ja jede Eigenliebe
ein und hat kein Gefühl mehr für Tränen, dem Mitleid ist
sie völlig verschlossen. Sie läßt sich noch dazu bewegen,
Hilfe zu leihen, aber nicht mehr mit zu leiden. Sie wird noch Gutes tun
und Beistand leisten, aber nur aus einer kalten Idee der Pflicht oder eher
noch aus Gewohnheit, ohne das ein Gefühl sie dazu anspornte oder ihr
daraus eine Freude entstünde. Die wahre und völlig befriedete
Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst bedeutet auch eine solche
gegenüber allem anderen und damit eine Unfähigkeit zu allen Dingen,
eine Vernichtung auch der von Natur größten und fruchtbarsten
Seele.
aus dem Buch Die Untröstlichen
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