Dienstag, 15. Januar 2013

E.M. Cioran - Bildnis des Zivilisationsmenschen

(...) Niemand könnte leugnen, daß auch die Natur verdorben ist, aber diese Verderbnis hat kein Datum, sie ist ein unvordenkliches und unvermeidbares Übel, dem wir uns notgedrungen anzupassen haben. Das Übel der Zivilisation jedoch ist aus unseren Taten und Launen hervorgegangen und wirkt um so niederdrückender, je zufälliger es uns erscheint, es trägt den Stempel einer Entscheidung oder einer Willkür, eines vorbedachten, freiwilligen Verhängnisses, zu Recht oder Unrecht glauben wir, es hätte garnicht eintreten müssen, es habe nur an uns gelegen, es überhaupt nicht aufkommen zu lassen. Dies läßt es uns vollends noch hassenswerter erscheinen, als es ohnehin schon ist. Wir sind untröstlich darüber, derart subtile Miseren aushalten zu müssen, wo doch die gröberen, aber im ganzen erträglicheren, mit denen die Natur uns so verschwenderisch ausgestattet hat, uns eigentlich genügen könnten.
Wären wir in der Lage, von unseren Wünschen loszukommen, so würden wir zugleich auch vom Schicksal loskommen; wir wären dann den Wesen, den Dingen und uns selbst überlegen. Nicht gewillt, uns weiter mit der Welt zu amalgamieren, würden wir durch das Opfer unserer Identität zur Freiheit gelangen, denn die ist untrennbar von einem Training in der Namenlosigkeit und in der Entsagung. "Ich bin niemand, ich habe meinen Namen besiegt!" So spricht einer, der sich nicht dazu erniedrigen will, Spuren zu hinterlassen (...).
Das Christentum hat uns zu wahnwitzigen Eiferern gemacht und uns damit unabsichtlich in die Lage versetzt, eine Zivilisation hervorzubringen, deren Opfer es jetzt geworden ist. Hat es nicht allzu viele Bedürfnisse, allzu viele Ansprüche in uns erschaffen? Anfangs waren diese Ansprüche, diese Bedürfnisse innerlicher Art, bald aber sanken sie ab und wandten sich nach außen. Die Inbrunst, der so viele nun plötzlich zum Schweigen gebrachte Gebete entströmt waren, konnte nicht einfach verschwinden und ohne Anwendung bleiben, sie mußte sich in den Dienst von Ersatzgöttern stellen, für deren Nichtigkeit sie sich Symbole zimmerte. Wir sehen uns Nachbildern des Unendlichen ausgeliefert, einem Absoluten ohne metaphysische Dimension preisgegeben, in die Geschwindigkeit statt in die Ekstase gestürzt. Das keuchende Eisenzeug, Echo unserer Emsigkeit, die Gespenster, die es handhaben. Aufmarsch von Automaten, Prozession von Halluzinierten! Wohin gehen sie? Was suchen sie? Welcher Wahnsinnswind reißt sie mit sich fort? Jedesmal wenn ich eine Neigung in mir verspüre, ihnen Nachsicht entgegenzubringen, wenn ich Zweifel bekomme an der Berechtigung des Widerwillens oder des Schreckens, den sie mir einjagen, brauche ich nur an die Landstraßen, wie sie am Sonntag aussehen, zu denken, und das Bild dieses motorisierten Ungeziefers bestärkt mich in meinem Ekel und in meinem Abscheu. (...)
In diesem Stadium müsste die Zivilisation wie ein Pakt mit dem Teufel erscheinen, wenn der Mensch noch eine Seele zu verkaufen hätte. Wurden diese Maschinen denn wirklich erfunden, um Zeit zu gewinnen? Hilfloser und enterbter als der Höhlenbewohner hat der Zivilisationsmensch nicht einen Augenblick mehr für sich alleine; sogar noch seine Mußestunden sind fieberhaft und bedrückend: Urlaub eines Sträflings, preisgegeben der Verdrossenheit des farniente und dem Alptraum der Badestrände. (...)
Da er trotz seiner Tollheit berechnend ist, bildet er sich ein, seine Sorgen und Kümmernisse wären geringer, wenn es ihm gelänge sie in der Form von "Entwicklungsprogrammen" den sogenannten "unterentwickelten" Völkern aufzuzwingen, denen er vorwirft, nicht "auf der Höhe" zu sein, das heißt nicht in besinnungslosem Wirbel. Um sie leichter zu Fall zu bringen, propft er ihnen das Gift der Angst auf und läßt sie nicht eher los, als bis er bei ihnen die gleichen Symptome von Tatenlust beobachtet hat. Um seinen Traum von einer atemlosen, hirnverbrannten und zeitversklavten Menschheit zu verwirklichen, durcheilt er die Kontinente, immer auf der Suche nach neuen Opfern, auf die er die Überflüsse seiner fiebernden Finsternis ergießen kann. Wenn man ihn anschaut, erkennt man die eigentliche Natur der Hölle: ist sie nicht der Ort, wo man für alle Ewigkeit zur Zeit verurteilt ist?
 
aus dem Buch Der Absturz in die Zeit

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