(...) Niemand könnte leugnen, daß auch die
Natur verdorben ist, aber diese Verderbnis hat kein Datum, sie ist ein
unvordenkliches und unvermeidbares Übel, dem wir uns notgedrungen
anzupassen haben. Das Übel der Zivilisation jedoch ist aus unseren
Taten und Launen hervorgegangen und wirkt um so niederdrückender,
je zufälliger es uns erscheint, es trägt den Stempel einer Entscheidung
oder einer Willkür, eines vorbedachten, freiwilligen Verhängnisses,
zu Recht oder Unrecht glauben wir, es hätte garnicht eintreten müssen,
es habe nur an uns gelegen, es überhaupt nicht aufkommen zu lassen.
Dies läßt es uns vollends noch hassenswerter erscheinen, als
es ohnehin schon ist. Wir sind untröstlich darüber, derart subtile
Miseren aushalten zu müssen, wo doch die gröberen, aber im ganzen
erträglicheren, mit denen die Natur uns so verschwenderisch ausgestattet
hat, uns eigentlich genügen könnten.
Wären wir in der Lage, von unseren Wünschen
loszukommen, so würden wir zugleich auch vom Schicksal loskommen;
wir wären dann den Wesen, den Dingen und uns selbst überlegen.
Nicht gewillt, uns weiter mit der Welt zu amalgamieren, würden wir
durch das Opfer unserer Identität zur Freiheit gelangen, denn die
ist untrennbar von einem Training in der Namenlosigkeit und in der Entsagung.
"Ich bin niemand, ich habe meinen Namen besiegt!" So spricht einer,
der sich nicht dazu erniedrigen will, Spuren zu hinterlassen (...).
Das Christentum hat uns zu wahnwitzigen Eiferern gemacht
und uns damit unabsichtlich in die Lage versetzt, eine Zivilisation hervorzubringen,
deren Opfer es jetzt geworden ist. Hat es nicht allzu viele Bedürfnisse,
allzu viele Ansprüche in uns erschaffen? Anfangs waren diese Ansprüche,
diese Bedürfnisse innerlicher Art, bald aber sanken sie ab und wandten
sich nach außen. Die Inbrunst, der so viele nun plötzlich zum
Schweigen gebrachte Gebete entströmt waren, konnte nicht einfach verschwinden
und ohne Anwendung bleiben, sie mußte sich in den Dienst von Ersatzgöttern
stellen, für deren Nichtigkeit sie sich Symbole zimmerte. Wir sehen
uns Nachbildern des Unendlichen ausgeliefert, einem Absoluten ohne metaphysische
Dimension preisgegeben, in die Geschwindigkeit statt in die Ekstase gestürzt.
Das keuchende Eisenzeug, Echo unserer Emsigkeit, die Gespenster, die es
handhaben. Aufmarsch von Automaten, Prozession von Halluzinierten! Wohin
gehen sie? Was suchen sie? Welcher Wahnsinnswind reißt sie mit sich
fort? Jedesmal wenn ich eine Neigung in mir verspüre, ihnen Nachsicht
entgegenzubringen, wenn ich Zweifel bekomme an der Berechtigung des Widerwillens
oder des Schreckens, den sie mir einjagen, brauche ich nur an die Landstraßen,
wie sie am Sonntag aussehen, zu denken, und das Bild dieses motorisierten
Ungeziefers bestärkt mich in meinem Ekel und in meinem Abscheu. (...)
In diesem Stadium müsste die Zivilisation wie ein
Pakt mit dem Teufel erscheinen, wenn der Mensch noch eine Seele zu verkaufen
hätte. Wurden diese Maschinen denn wirklich erfunden, um Zeit zu gewinnen?
Hilfloser und enterbter als der Höhlenbewohner hat der Zivilisationsmensch
nicht einen Augenblick mehr für sich alleine; sogar noch seine Mußestunden
sind fieberhaft und bedrückend: Urlaub eines Sträflings, preisgegeben
der Verdrossenheit des farniente und dem Alptraum der Badestrände.
(...)
Da er trotz seiner Tollheit berechnend ist, bildet er
sich ein, seine Sorgen und Kümmernisse wären geringer, wenn es
ihm gelänge sie in der Form von "Entwicklungsprogrammen" den sogenannten
"unterentwickelten" Völkern aufzuzwingen, denen er vorwirft, nicht
"auf der Höhe" zu sein, das heißt nicht in besinnungslosem Wirbel.
Um sie leichter zu Fall zu bringen, propft er ihnen das Gift der Angst
auf und läßt sie nicht eher los, als bis er bei ihnen die gleichen
Symptome von Tatenlust beobachtet hat. Um seinen Traum von einer atemlosen,
hirnverbrannten und zeitversklavten Menschheit zu verwirklichen, durcheilt
er die Kontinente, immer auf der Suche nach neuen Opfern, auf die er die
Überflüsse seiner fiebernden Finsternis ergießen kann.
Wenn man ihn anschaut, erkennt man die eigentliche Natur der Hölle:
ist sie nicht der Ort, wo man für alle Ewigkeit zur Zeit verurteilt
ist?
aus dem Buch Der Absturz in die Zeit
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