Dienstag, 15. Januar 2013

Giacomo Leopardi - Unfähigkeit zu allen Dingen

Lang andauerndes Unglück wie auch ein zur Gewohnheit gewordener Zustand, in welchem dem Menschen Freuden und Anreize für seine Eigenliebe versagt sind, lassen auch in der edelsten Seele schließlich jede Phantasie, alles starke Gefühl, Leben, Tatkraft und Stärke und nahezu jede Seelengabe erlöschen. Denn eine derartige Seele fasst sich nach der ersten nutzlosen Verzweiflung und dem wilden und schmerzreichen Zusammenstoß mit der Notwendigkeit schließlich in einem Zustand der Stille und kennt keinen Ausweg im Leben mehr, wie auch Natur und Zeit ihr nichts anderes gebieten, denn die Eigenliebe dauernd zurückzudrängen und zu unterdrücken, damit sie das Unglück weniger hart treffe, dieses besser zu ertragen und mit der Ruhe eher vereinbar sei. Daraus entsteht dann eine übermäßige Gleichgültigkeit und Härte gegen sich selbst, ein vollkommenes Absterben geistigen Lebens und menschlicher Gaben. Der Mensch nimmt an sich selbst keinen Anteil mehr und widmet sich auch keiner Sache, denn im Grunde nimmt er an Dingen nur Anteil, wenn sie eine mehr oder weniger enge und offenbare, aber doch irgendwie geartete Beziehung zu ihm selbst haben, weder die Schönheiten der Natur, Musik, Dichtung, erfreuliche oder traurige Weltereignisse, noch Glück und Unglück anderer Menschen, gehören sie selbst zu seinen allernächsten, erzeugen in ihm einen lebhaften Eindruck, wecken oder erwärmen ihn innerlich oder sprechen seine Phantasie und sein Gefühl an oder fordern seine Anteilnahme und bereiten ihm weder Freude noch Schmerz, obwohl sie ihn noch vor wenigen Jahren mit Begeisterung erfüllt und zu tausenderlei Schöpfungen angeregt hatten. Er ist über seine eigene Unfruchtbarkeit, Unrührbarkeit und Kälte selbst hilflos erstaunt und sieht sich, nachdem er einstmals die größten Fähigkeiten besessen hatte, nun völlig unfähig zu allem und jedem und sich selbst wie den anderen unnütz. Das Leben erstirbt, wenn die Eigenliebe ihren Wirkungsbereich eingebüßt hat. Jede Seelenkraft erlischt mit der Hoffnung. Ich meine damit nur den Zustand beruhigter Verzweiflung; denn die wilde ist voller Hoffnungen oder wenigstens Wünsche und giert noch im selben Augenblick nach Glück, in dem sie Stahl oder Gift gegen sich selbst richtet.
Völlig erloschen sind die Wünsche in einer Seele, die sich damit abgefunden hat, sie stets unerfüllt zu sehen, und die aufgrund vernünftiger Überlegung oder gar beider dazu herabsank, sie selbst einzuschläfern oder gar zu unterdrücken. Der Mensch, welcher sich selbst nichts mehr wünscht und sich selbst nicht mehr liebt, taugt auch für andere nichts. Alle Freuden, Leiden, Regungen und Taten, welche ihm die oben erwähnten Dinge, d.h. die Natur und alle übrigen Erscheinungen eingaben, bezogen sich in der ein oder anderen Weise auf ihn selbst, und ihr Lebenselement bestand in einer Rückkehr zu sich selbst. Jene einst so starke Seele büßte nun alles Wilde, jeden Menschenhass, Groll und Unwillen, ja jede Eigenliebe ein und hat kein Gefühl mehr für Tränen, dem Mitleid ist sie völlig verschlossen. Sie läßt sich noch dazu bewegen, Hilfe zu leihen, aber nicht mehr mit zu leiden. Sie wird noch Gutes tun und Beistand leisten, aber nur aus einer kalten Idee der Pflicht oder eher noch aus Gewohnheit, ohne das ein Gefühl sie dazu anspornte oder ihr daraus eine Freude entstünde. Die wahre und völlig befriedete Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst bedeutet auch eine solche gegenüber allem anderen und damit eine Unfähigkeit zu allen Dingen, eine Vernichtung auch der von Natur größten und fruchtbarsten Seele.
 
aus dem Buch Die Untröstlichen

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