Montag, 29. Juli 2013

Melancholie und Depression

Es ist mittlerweile eine weitläufig verbreitete Ansicht, dass die sogenannte Depression eine Krankheit der Moderne ist, eine Ausgeburt der kapitalistischen Wahnsinns-Gesellschaft, in der wir unbestreitbar leben, und dass es sie "früher" nicht gegeben hat. Ich halte diese Ansicht für zugleich wahr und unwahr, weil sie eine entscheidende Komponente ausser Acht lässt, nämlich die Unterscheidung zwischen Melancholie und Depression.

Der Geisteszustand der Depression an sich ist ganz sicher nicht einfach nach der Erfindung des Fließbands in die Welt gefallen, weil sich das Tempo des Lebens plötzlich exponentiell vervielfacht hat. Vielmehr ist dies der Punkt, an dem die oben angedeutende wichtige Unterscheidung ins Spiel kommt:Melancholie, in früheren Zeiten auch oft als Schwermut oder "schwarze Galle" bezeichnet, ist ein Geisteszustand der Verlorenheit, Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und Resignation, allerdings auch der erhöhten Selbstreflexion und des konstanten Zweifelns und Ver-Zweifelns an der Welt. Ein melancholisch veranlagter Mensch wird kaum für die "höheren Ziele", all die Utopien und Ideale, welche sich das Menschengeschlecht seit jeher in Hülle und Fülle ausgedacht hat, zu begeistern sein, weil er überall den Modergeruch der Lüge und des zum Universalgesetz erhobenen Selbstbetrugs wittert. Ferner wird ihm ein Blick auf die Geschichte des Fell verlierenden Affen genügen, um zu erkennen, was wirklich bei all den Reparadiesierungsmaßnahmen der Optimisten herauskommt, nämlich Krieg, Folter und Elend.

Melancholie ist also im wesentlichen ein Geisteszustand der Klarsicht auf die weltlichen Ereignisse. Darüber hinaus kennt der Melancholiker aber auch ganz genau seinen Platz im Universum. Er weiß, dass er nur ein verschwindend kleines Individuum in endlosem Raum und endloser Zeit ist, gebunden an einen Körper, der langsam zerfällt und schließlich im Tod enden und somit alles Erreichte zunichte machen wird, in einer kurzen Lebensspanne unzähligen Trieben und Wünschen ausgesetzt, die immer nur scheinbar erfüllt werden, weil sie sich stets wieder erneuern. Ferner ausgesetzt der Langeweile, wenn alle Wünsche zeitweilig erfüllt sind und zudem unzähligen Leiden wie Krankheit, Schmerz und Verlust, denen er niemals ganz entkommen kann.

Es wäre geradezu Irrsinn diese "Weltanschauung" als ein Produkt der Moderne anzusehen, was ja schon alleine durch unzählige Aufzeichnungen aus der Vergangenheit widerlegt wird. Aber auch ohne diese Aufzeichnungen (zum Beispiel: The Anatomy of Melancholy) erschließt sich jedem Denker, dass es keinen Grund gibt, davon auszugehen, dass sich nicht auch schon im antiken Griechenland und in den öden Steppen des vorgeschichtlichen Europas der eine oder andere schwermütige Homo sapiens durchs Leben geschleppt hat. "Der eine oder andere", weil diese, ich nenne es jetzt einmal etwas provozierend "Gabe", in früheren Zeiten nur wenigen zufiel und man kann wohl vermuten: je weiter man in der Geschichte zurückblickt, desto weniger dürften es sein.

Man kann die ganze Menschheitsgeschichte betrachten als eine Form der Umsetzung des universellen Gesetzes der Schwächung der Kraft (Entropiegesetz), konkret formuliert einer Schwächung des Lebenswillens und einer Stärkung des Geistes. Im Tier ist der Lebenswille noch ungebrochen und vollständig vorhanden, das Tier ist reiner Lebenswille. Sobald jedoch die Grenze zum Bewußtsein überschritten wird, setzt bereits eine leichte Schwächung des Willens ein - die urzeitlichen Menschen waren noch fast vollständig ungespaltener Wille zum Leben, jedoch drangen schon die ersten Schwächungen durch eine leichte Selbstreflexion und erste Gedanken in den Lebenswillen ein. Je mehr sich nun die Menschheit kultivierte und somit weit mehr Objekte des Wollens als nur "überleben wollen" ins Spiel kamen, umso mehr zersplitterte und verfeinerte sich der ursprünglich einförmige Wille in verschiedenste Richtungen. Jetzt war es zum Beispiel für einen Steinzeitmenschen wichtiger, eine Höhlenmalerei fertigtzustellen als jagen zu gehen, weil sein Geist gestärkt und sein Wille, durch die Aufsplitterung in eine kulturelle und künstlerische Richtung, geschwächt wurde.

Diese Entwicklung der Menschheit nun im Detail durchzugehen, würde zu weit führen. Anhand der gegebenen Richtung und den genannten Beispielen, dürfte der Rest auch ohne weitere Erläuterungen jedem einleuchtend sein. Offensichtlich hat ein Mensch im antiken Griechenland einen stärkeren Geist, aber einen schwächeren Willen als ein Urzeitmensch, weil sich seine Wille auf wesentlich feinere und subtilere Ziele streuen musste. Entscheidend ist hierbei lediglich, dass es sich letzten Endes um eine kontinuirliche Abwärtsspirale handelt, denn der Wille zum Leben, nicht der Geist des Menschen, ist die ursprüngliche Kraft des Lebens und wenn jene Urkraft beständig geschwächt wird, weil immer mehr Zersetzung durch geistige Aktivitäten erfolgt, handelt es sich hier unvermeidlich um einen Zerfall.

Jener Zerfall ist es nun, welcher, obwohl eigentlich offensichtlich vorhanden, nur von wenigen Menschen erkannt und gefühlt wird. Es handelt sich bei diesen wenigen um die Melancholiker, die Schwermütigen, die von der schwarzen Galle befallenen, oder wie auch immer sie in der jeweiligen Geschichtsperiode genannt wurden. Da der Rest der Menschheit in der beständigen Illusion eines Fortschritts lebt, ist es nicht verwunderlich, dass die melancholische Perspektive schon immer als abwegig und irrsinnig, teilweise sogar als satanisch deklariert und, ob nun kirchlich oder medizinisch, ausexorziert werden mußte. Jedoch sind all diese Schritte, so drastisch sie teilweise auch waren, nichts gegen die heutzutage laufende Massengehirnwäsche gegen die Melancholiker, welche von der modernen Medizin und vor allem der Pharmaindustrie vorangepeitscht wird.

Der klarsichtige Melancholiker streitet nicht ab, dass die Welt und die Menschheit einem wie auch immer gearteten Prozess, einer Entwicklung unterliegt. Jedoch sieht er da, wo die anderen in der Illusion eines positiven Fortschritts, gleichsam einer Aufwärtsspirale, leben, nur die Wahrheit eines negativen Fortschritts, nämlich einer Abwärtsspirale. Während die moderne Wissenschaft weiterhin versucht, den Melancholikern ihre Klarsicht auszuexorzieren, quillt aus allen Ecken und Ritzen die blutige und schwarzgallige Realität der Dinge hervor, die uns zeigt, dass unsere ganze Geschichte nichts weiter als ein Auftürmen von Leichenbergen, Folteropfern, zerbombten Trümmerhaufen,
ausradierten Städten, Vernichtungslagern und Massengräbern ist. Die Zeiten des Friedens wurden vor allem für Aufräumarbeiten (physische und metaphysische) und erneutes Aufrüsten genutzt. Dazwischen verfeinerten wir unsere Überlebens-Instrumente, unsere Behausungen und unseren Lebenswandel, immer wartend auf die nächste menschengemachte Teilzeit-Apokalypse, alles in den Schatten stellend natürlich der erste und vor allem der zweite Weltkrieg.

Wie die Menschheit nach dem zweiten Weltkrieg und dem zur Industrie erhobenen Massenmord beschließen konnte weiterzubestehen, ist mir ein Rätsel. Ein noch viel größeres Rätsel ist mir jedoch, warum sie sich nicht einmal die Frage ernsthaft gestellt hat. Wäre anstelle, oder sagen wir, nur um jedes Mißverständnis zu vermeiden, nach den Nürnberger Prozessen nicht vielmehr ein Weltprozess nötig gewesen, in dem darüber entschieden wird, ob es nicht besser für die Menschheit wäre, freiwillig auszusterben, als danach noch weiterzumachen. Natürlich wäre es folgerichtig gewesen, aber da der Großteil der Menschheit nuneinmal, trotz des schlagenden und markerschütternden
Gegenbeweises der Jahre 1939-1945, welche an Grausamkeit und Unmenschlichkeit alles bisher dagewesene in den Schatten stellten und in welchen die Rationalität des Bösen durch eine geplante und vollstreckte TötungsINDUSTRIE auf die Spitze getrieben wurde, an einen positiven Entwicklungsgang glaubt, war es im Grunde klar, dass dieser Prozess nicht zustande kommen konnte. Man belies es dabei, das Geschehene als Einzelfall zu behandeln und folgerte nicht, dass eine solche Katastrophe aus dem Gang der Welt natürlich folgte und in der Zukunft zweifellos noch übertroffen werden kann.

Wir springen nun direkt in die moderne Zeit, in unser Zeitalter der Psychotherapie und Antidepressiva. Als "depressiv" gilt heute, wer nicht mehr mit dem krankhaften Tempo der Welt mithalten kann. Wer mit dieser Gesellschaft nicht klar kommt, wer es nicht schafft, jeden Tag mindestens acht Stunden zu schuften um einem anonymen Konzernchef, den man nie persönlich kennen lernen wird, sein drittes Haus oder seinen fünften Mercedes zu finanzieren; wer es nicht "auf die Reihe kriegt" in der sogenannten Freizeit zwischen Smartphone und Facebook noch einen stabilen Freundes-und-Bekanntenkreis, also einen Kreis aus gleichwertigen Arbeits-und-Konsumzombies, aufrechtzuerhalten, der gilt als depressiv, der leidet an "Burnout", dessen Gene sind wohl noch nicht im neuen Paradies der kapitalistischen Utopie angekommen, der muss mit Gehirnwäsche und Psychopillen "upgedated" werden, damit er sich wieder in den rasenden Strom des postmodernen Wahnsinns einfügen und weiterhin das System am Leben halten kann.Es fällt hier als erstes ins Auge, dass es nicht darum geht, das leidende Individuum zu heilen, sondern seine Funktion für die Gesellschaft wiederherzustellen. Gleichzeitig hält die sogenannte Psychotherapie einen eigenen Industriezweig der Pharmaindustrie am Leben, nämlich den florierenden Markt der Antidepressiva und sonstigen Psychopharmaka. Desweiteren fällt auf, dass etwaige Gründe für die "Depression", wie etwa ein begründeter Geschichtspessimismus oder die Anerkennung der offensichtlichen Nichtigkeit und Leiderfülltheit des Lebens, überhaupt keine Rolle spielen. Wer die wahren Gründe für seinen Geisteszustand anführt, der bekommt Sätze zu hören wie "sie müssen schon wirklich Hilfe annehmen, sonst funktioniert das nicht" oder "mit einer so negativen Einstellung kommen wir hier nicht weiter". Es ist die endgültige Pathologisierung der pessimistischen Denkweise und die heutige Gesellschaft, die meint alles "heilen" zu müssen, was nicht dem positivistischen Fortschrittsgedanken entspricht, würde sogar einem Schopenhauer und einem Cioran Pillen verschreiben! Durch die erfolgreiche Psychologisierung aller Motive, welche vollkommen absurd ist, zählen Argumente nichts mehr, weil immer die "denk nicht so negativ"-Keule hinterm Therapeutensessel bereit steht (wobei jene Keule auch von jedem x-beliebigen Gesprächspartner genau so gerne benutzt wird).

Ich will hier nicht unter den Tisch fallen lassen, dass die Melancholie, die Schwermut, die Depression, durchaus krankhafte Symptome hervorufen kann und dies in einem geringeren Maße als heute auch schon immer konnte (man könnte sagen: die "Depression" ist der krankhafte Aspekt der Melancholie, der Aspekt, der psychopathologsiche Ängste, Zwänge und ähnliches entstehen lässt, welche natürlich in der modernen Gesellschaft vielmehr ins Gewicht fallen als früher). Fest steht aber für mich, dass der Kern der Melancholie wie auch der Depression eine klare, ungeschönte Sicht auf die Tatsachen der Welt ist. Dass die krankhaften Auswüchse dieser so edlen Geisteshaltung gerade in der modernen Zeit so rapide zunehmen, liegt ganz offensichtlich an der Zeit, nicht an den Individuen. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Weltlauf noch einmal so drastisch exponentiell beschleunigt, dass E.M. Ciorans Prophezeihung, dass eine Zeit kommen wird, "in der sich das Dasein vollständig in Bewegung aufgelöst haben wird", längst Realität geworden ist. Es gibt für den durchschnittlichen Menschen praktisch keine Ruhe, keine Besinnung und kein Stillstehen mehr. Wir werden, wenn wir nicht gerade selbst für den Erhalt all dieses Wahnsinns schuften, bombardiert mit den Erzeugnissen der anderen, die ihrerseits für den Erhalt des Systems kämpfen (man muss es so nennen, denn moderne Arbeit ist durch Zeitdruck und Bedingungen in den meisten Fällen ein Kampf). Die Reizüberflutung kennt keine Grenzen mehr und wir sind selbst nur noch zuckende Automaten zwischen Fernseher, Radio, DVD-Player, Playstation, PC, Smartphone und Laptop. Die Natur ist in weite Ferne gerückt und viele kennen sie nur noch in digitaliserter Version. Den Holocaust haben wir in die Tier-KZ's verlegt, denn man muss nicht befürchten, dass Schweine und Rinder sich zusammentun und einen Prozess zur Aufarbeitung dieses Verbrechens in die Wege leiten, welcher die Täter bloßstellen und bestrafen wird.

Gerade in dieser Zeit, in der abartigsten und perversesten Gesellschaft aller Zeiten, welche geradezu danach schreit, darin depressiv zu werden, wird nun also die Klarsichtigkeit der Melancholie wie noch in keiner anderen Epoche zuvor pathologisiert und ausgegrenzt. Wer nichts "positives" zu sagen hat, der soll "erst mal klar kommen", wie es so schön heißt, der mus wohl erst einmal sich selbst überwinden, mitmachen und sich einreihen. Es ist die größte Gleischschaltung, die jemals stattgefunden hat und die Krönung dieser Gleichschaltung ist, dass sie uns als "Freiheit" verkauft wird - das ist der Geniestreich der modernen Diktatur, welche es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Wahrheit über das Leben endgültig mit Therapie und Pille aus der Welt zu schaffen, um so die Reparadiesierung einer in sich kranken Welt zu ermöglichen. Sie wird ihr Ziel erreicht haben, an dem Tag, an dem Chemie und Gehirnwäsche noch den letzten Melancholiker verstummen lassen.

Sonntag, 28. Juli 2013

Die blutende Wunde des Nichts

Auf dem Grunde sieht der immanente Philosoph im ganzen Weltall nur die tiefste Sehnsucht nach absoluter Vernichtung. Es handelt sich nicht darum, ein Geschlecht von Engeln zu erziehen, das dann immerfort, immerfort existierte, sondern um Erlösung vom Dasein.

- Philipp Mainländer

Wieso konnte das Universum nicht in der ewigen Stille des Nichts verharren? Woher kam der Impuls, der Perfektion der Leere etwas hinzuzufügen? Was veranlasste den ewigen Frieden der Nichtexistenz den Krieg der Existenz zu beginnen?

Die Welt ist die blutende Wunde des Nichts und alles was ist, strebt nicht etwa nach Vollendung, nach Perfektion oder nach Glück - wie könnte es auch, wo doch die Perfektion der Ausgangspunkt war? Alles strebt nach dem Ende, nach dem Tod, nach Erlösung. Die Bewegung der Welt ist die Bewegung aus dem Sein in das Nichtsein. Innerhalb des Seins gibt es nichts zu erreichen, nichts zu verbessern, es gibt nur verschiedene Formen des Leidens, angenehme und, weit mehr, unangenehme. Wir können die Wunde verbinden, aber unsere Verbände sind mangelhaft und überall dringt Blut durch die Ritzen.

Ich habe an der reich gedeckten Tafel der Weisen gesessen und die Wahrheit gesehen - doch irgend etwas zieht mich immer wieder hinunter in das schwüle Gedränge des Karnevalssaals namens Leben. Dann halten mich die Emotionen, die Erfahrungen, das Unvorhersehbare eine Weile dort im Chaos - nur um mich dann schon nach kurzer Zeit wieder nach der Stille und Freiheit der Weisheit sehnen zu lassen.

An der Tafel der Weisen sitzen meine Seelenverwandten, diejenigen, die das Ziel allen Lebens - den Tod - direkt wollen. Im Karnevalssaal tanzen meine Herzensverwandten, diejenigen die immer noch am Tropf des Lebens hängen und das Mittel (Leben) über den Zweck (Tod) stellen.

Ich lebe in zwei Welten und kann mich für keine entscheiden. Ich bin dazu auserkoren ewig hin und her zu schwanken zwischen der Verneinung und der Bejahung, in der Bejahung immer nur mit halber Seele und vollem Herzen, in der Verneinung immer nur mit halbem Herzen und voller Seele stagnierend.

So schleppe ich mich weiter durchs Treppenhaus der Nichtigkeit und warte auf den Tag, an dem der Tod die Wahrheit der Weisen bekunden und all meine Zweifel für immer aufheben wird. Ich bin schon jetzt gespannt, ob ich im Karnevalssaal oder an der Tafel der Weisen meinen letzten Atemzug nehmen werde...

Samstag, 6. April 2013

Filmempfehlung: Die grosse Stille

"Außergewöhnliches Filmprojekt von Philip Gröning, der die Einsamkeit und Stille des Klosters La Grande Chartreuse dokumentiert."

Die grosse Stille

Buchempfehlung: Herman Melville - Bartleby der Schreiber

"Herman Melvilles subversive Geschichte einer Verweigerung ist eines seiner Meisterwerke und einzigartig in ihrer absurden Komik. Jürgen Krug hat seine Neuübersetzung mit einem umfangreichen Kommentar versehen. Die Geschichte spielt in der New Yorker Geschäftswelt um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein seltsamer, rätselhafter Mann wird in einer Kanzlei als Kopist eingestellt: Bartleby. Während er zunächst durch ungewöhnlich große Zurückhaltung und Schweigsamkeit auffällt, geht er mehr und mehr dazu über, die Ausführung bestimmter Tätigkeiten mit dem Satz »Ich möchte lieber nicht« abzulehnen. Schließlich verweigert er sich jeder Art von Tätigkeit. Sein Arbeitgeber erliegt immer mehr dem Einfluß Bartlebys …"

Bartleby der Schreiber

Montag, 25. Februar 2013

Emil und der Selbstmord - Von Ciorans Kampf der Völker zum Kampf gegen sich selbst

Ein Essay von Katharina Kaps:

Als Kafka einem Freund zu verstehen gibt, er schreibe, weil er andern-
falls wahnsinnig würde, weiß er, dass Schreiben schon Wahnsinn,
sein Wahnsinn ist, eine Art Wachen außer Bewußtsein,
Schlaflosigkeit. Wahnsinn gegen Wahnsinn.
(Blanchot, Die Schrift des Desasters)

say anti-anti, anti-anti
say anti-anti, anti-anti
Bonaparte,  Anti-anti




Antinatalität? Was´n das? Eine Entgegnung zum arendtschen Gebürtlichkeits-Konzept? In gewisser Weise mag dies stimmen, ohne dass Cioran je wirklich Kenntnis von Arendt (oder vice versa) genommen hätte. Arendts Ansatz einer durch das menschliche (Immer-wieder) Anfangen-Können bedingten vita activa entgegnet Cioran mit einer vita passiva (die keine vita contemplativa ist); einem von Skepsis befallenen Dasein, das sich in gleichgültiger Larmoyanz (sic!) satiniert: dem cioranschen Zustand des Nicht-Selbstmordes[1].
Die essentiellen Fundamente des (französisierten, späteren) cioranschen Schreibens: Die – sublimierte – Negation des als kontingent und leidvoll erlebten Daseins, die radikale Subjektivität basierend auf einer vitalistisch und durch einen perennierend zweifelnden Geist geschwächt gedachten Existenz, die (nun) intrasubjektiv lokalisierte Kampfarena (die nicht mehr eine Arena verschiedener Völker-im-Kampf ist), der konsequenter Nihilismus, eskortiert von einem „Suizid als Methode“, expliziert in eruptionsartigem Schreiben – so lautet das Resümee der wichtigsten Inhalte des cioranschen Œuvre.

Auftakt dieser Lehre bildet die Setzung eines ursprünglich rein biologisch-vitalen Daseins. Im instinktiven, sein teleologisches Moment wesenhaft in sich tragenden (Über)Lebenswillen wird ein Faktor des fundamentalen Leids gesehen, dessen immanente Ursache das Leben in der Zeitlichkeit ist. Der Wille ist eine Funktion eines dem Dasein „aufgepfropften“ Geistes. Cioran verflucht (sic!) die Entwicklung des Geistes aus der Materie, in anderen Publikationen die Genese der Materie überhaupt. Dem Vergehen-zum-Tode wird die Glorifizierung des Nu opponiert: Im hypostatisierten Augenblick sieht Cioran die Möglichkeit der Ewigkeit, eines schopenhauerischen nunc stans.
Es gilt nicht das Dasein als Geworfenes gemäß seiner Möglichkeiten zu realisieren, es bleibt lediglich ein Wüten über die Gewesenheit des paradiesischen „[...] l´anonymat initial.“[2] Auf diesen vorgeburtlichen Noch-nicht-Seins-Zustand rekurriert eine resignativ-religiöse Sinnsuche des sich nach einem verklärten Pränatalitätsparadies sehnenden Individuums. Das dem Faktum der Geburt adäquat gesetzte principium individuationis, dessen Folge das Leben innerhalb der Zeitlichkeit, also ein Dasein-zum-Tode ist, figuriert als intramundän erfahrbare Kausalität allen Leids: „L´individuation nous révèle la naissance comme un isolement et la mort comme un retour“.[3] Diese Rückkehr wird mystisch-verklärt zur Rückkehr in einen Zustand, in dem wir noch nicht als Singularitäten existierten, aber eine pränatal-harmonische Totalität gegeben war – ein Mystizismus, der in ähnlicher Lesart bereits vom mittelalterlichen Eckhart, sowie Mainländer oder auch Weil im 20. Jahrhundert propagiert wurde. Leben repräsentiert ergo das Paradox einer Gewissheit, sterben zu müssen, und einer konsequent gelebten Defensivhaltung gegenüber dieser Gewissheit.
Nichts rechtfertigt die Tatsache dass man lebt; nichts das einzige Pech, das Licht der Welt zu erblicken.[4] Es bleibt nur, sich an das Absurde zu halten, was einer Verrücktheit gleichkommt. Dies lässt Cioran schließen, dass „[t]oute existence qui ne recèle pas une grande folie reste depourvu de valeur“.[5] Die Absurdität des originären Prinzips wird in das Subjekt hinein geholt und dort als Eigenes angenommen und kultiviert. Nicht die Vernunft, sondern der dem menschlichen Dasein immanente Wahnsinn wird hier als spezifisch menschliches Charakteristikum gesetzt. Cioran positioniert „Wahnsinn“ als in Opposition zur Vernunft zu stehend und infiltriert den Begriff mittels dieser Kontrastierung mit positiver Konnotation. Er kann, obwohl zahlreiche Versuche davon zeugen, den Vernunftbegriff nicht absolut negieren, wohl aber dessen Wirkungsbereich als unzureichend erklären: „Que la folie soit notre seule sagesse“.[6] Das bedeutet, man muss das Wissen, das man habe, das existenziell-bedrückende Wissen, sterben zu müssen, transzendieren, und sich der Irrationalität hingeben – um in dieser zu leben.
Aus der Irrationalität des Daseins, eine aus dem Bereich der Affektionen deduzierte Erkenntnis, folgt nach Cioran die These, da es keinen Grund zu leben gibt, es ebenso wenig einen Grund zu sterben geben kann. Dies wiederum gilt für alle in einem in diesem vereinten und doch individualisierten Sein-zum-Tode. Dieses Leben jedoch, dem wir anheimfallen, bedeutet nicht nur essentielles Leid, eine Ideologie, die zuvor schon Schopenhauer und Mainländer propagierten; bei Cioran entwickelt sich dieses Leiden zur existentiellen Geißel der Agonie.[7] Oder auch: Sein ist der Zustand des Nicht-Selbstmordes.[8]
Gleichzeitig oder dennoch erfährt das Leben als einzig unmittelbar erfahrbare Realität selbst eine Apotheose: Der Rest ist Philosophie, Christentum oder andere Form des Verfalls.[9] Es gibt lediglich eine allen Individuen zu Teil werdende Universalität: Die des Lebens und damit des Todes.[10] Während die Ideen vom Wesen des Menschen als lediglich externe mit dem geschichtlichen Wechsel variieren, bleibt der Tod das einzig wahre Kriterium. Dem widersteht eine Glorifizierung des Nu: Im Augenblick als Ewigkeit in der Zeit, wird der Tod genichtet.

Wozu also eine Cioran-Lektüre? Letztendlich bleibt das gesamte Werk persönlich-subjektivem Duktus verhaftet, dass es keiner inhaltlichen Kritik exponibel gemacht werden kann. Die Quintessenz des cioranschen Denkens bleibt demnach als ein Ratgeber abseits der inflationären Ratgeber-Maschinerie unserer Zeit lesbar, keine hedonistischen, ethisch-moralischen oder sonstige lebens- und verhaltensoptimierenden Leitlinien beherbergend, sondern gespickt mit Gedanken für jene, die sich in ähnlichen Lebens- und Leidenssituationen befanden und in diesem Werk ironischerweise die Affirmation des Lebens finden werden und sich in Aufbegehren oder Indifferenz gegenüber diesem leidvollen Dasein üben können.


[1]
           Cf. Cioran, Emil; SCD, 390.
[2]
          „[...] das anfänglich Anonyme“, LL, 204.
[3]
          „Die Individuation zeigt uns die Geburt als Isolierung, den Tod als Rückkehr auf“., Ebd., 203.
[4]
           IEN, 1276.
[5]
          „Jede Existenz, die nicht in sich einen großen Wahnsinn birgt, ist wertlos.; SCD, 24.
[6]
          „Wahnsinn sei unsere einzige Weisheit“., LDL, 140.
[7]
           SCD, 45. Zur Terminologie der Tortur, die das Dasein darstellt, lassen sich in jedem Werk Ciorans unzählige       Exempel finden. Zur Entfaltung der Agonie in der Zeitlichkeit cf. das Kapitel bezüglich Zeitlichkeit dieser Arbeit.
[8]
           Cf. CDP, 390.
[9]
           LL, 216.
[10]
          Cf. LZ, 17.




Siglen
CP                          Le crépuscule des pensées,  In: Oeuvres, Editions Gallimard, Paris 1995
                               dt. Titel: Gedankendämmerung, Originaltitel: Pe culmile disperarii
IEN                         De l´inconvenient d´etre né, In: Oeuvres, Editions Gallimard, Paris 1979
LZ                          Lehre vom Zerfall. Essays; Übertragen von Paul Celan, Klett-Cotta, Stuttgart 1978
LL                           Le livre des leurres, In: Oeuvres, Editions Gallimard, Paris 1995, dt.  Das
                               Buch der Täuschungen
LS                           Des larmes et des saints, In: Oeuvres, Editions Gallimard, Paris 1995, dt.  Das
                               Buch der Täuschungen
LSL                        Leidenschaftlicher Leitfaden, Übersetzung von Ferdinand Leopold, Suhrkamp,
                               Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996
SCD                       Sur les cimes du desespoir; In: Oeuvres; Editions Gallimard, Paris 1995;
                               dt. Titel:Auf den Gipfeln der Verzweiflung
VS                                          Die verfehlte Schöpfung; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am  Main 1979, Über-
                               setzung der Originalausgabe Le mauvais démiurge; Editions Gallimard, Paris 1969

Mittwoch, 20. Februar 2013

Radiosendung über Philipp Mainländer

 Zur Sendung...

"Eigentlich hieß der 1841 in Offenbach am Main geborene dichtende und denkende Kaufmann Philipp Batz. Etablierte Literaturwissenschaftler und Philosophen haben den unglücklichen Selbstmörder mit dem Etikett „Schopenhauerschüler" versehen und dann schnell vergessen. Sein Denken war vielen zu radikal. Doch außerhalb und am Rande der akademischen Zunft erlebt er derzeit eine nicht unbeträchtliche Wiederentdeckung. Seine Werke werden neu herausgegeben, eine Biografie ist erschienen, wissenschaftliche Aufsätze in Fachzeitschriften wurden publiziert. Dort kann man dann lesen, Mainländer löse Denkblockaden. Und sein Hauptwerk, die Philosophie der Erlösung, sei, wie bereits Theodor Lessing geschrieben hat, „vielleicht das radikalste System, das die philosophische Literatur kennt“."

Was ist anthropofugale Philosophie?

Hier gibt es eine sehr lesenswerte Rezension zu Ulrich Horstmanns Buch "Das Untier": 

I. Das Untier schlechthin: der Mensch

In seinem 1983 zuerst, 1985 dann als Suhrkamp-Taschenbuch erschienenem Essay entwickelt Horstmann das Grundmuster dessen, was er "anthropofugales Denken" nennt. Der Einsatz des Buches gibt unmittelbar den ironisch-sarkastischen Ton dieses Philosophierens an:
Die Apokalypse steht ins Haus. Wir Untiere wissen es längst, und wir wissen es alle. Hinter dem Parteiengezänk, den Auf- und Abrüstungsdebatten, den Militärparaden und Anti-Kriegsmärschen, hinter der Fassade des Friedenswillens und der endlosen Waffenstillstände gibt es eine heimliche Übereinkunft, ein unausgesprochenes großes Einverständnis: dass wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, sobald und so gründlich wie möglich – ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne Überlebende.   (Suhrkamp-Ausgabe, S. 7)
Diese These ist zunächst mehr als überraschend. Sie beinhaltet, dass alle Anstrengungen der Menschheit, auch und erst recht diejenigen, die auf eine grundsätzliche Überwindung des Krieges zielen, letztlich, "in der Heimlichkeit [unserer] Vernunft" (ebda.), das Gegenteil meinen und auf eine Auslöschung, nicht nur des menschlichen, sondern des Lebens überhaupt, gerichtet sind:
Der wahre Garten Eden – das ist die Öde. Das Ziel der Geschichte – das ist das verwitternde Ruinenfeld. Der Sinn – das ist der durch die Augenhöhlen unter das Schädeldach geblasene, rieselnde Sand. (S. 8).
Damit sind von vornherein alle Ideen, sei es der Philosophie oder der Religion, von Fortschritt, einem Telos der Geschichte oder gar der Erlösung, beiseite gewischt. Sie können nichts weiter sein, als mühsame Versuche, sich das Sinnleere unserer Existenz zu verbergen, nein, mehr noch, sie arbeiten dem Nichts, das sie nicht gelten lassen wollen, insgeheim, wie wir gesehen haben, dennoch zu... weiterlesen